Boccacio und das schmutzige Mittelalter

Momentan scheint das Mittelalter in den Medien mal wieder besonders schmutzig zu sein. Keine Behauptung ist dabei absurd genug. Dass die Straßen immer und zu jeder Zeit Schlammgruben waren ist dabei nichts neues, aber auch die Flüsse sollen die reinsten Kloaken gewesen sein. Ja, selbst auf Burgen sei der Gestank so schrecklich gewesen, dass man auf eine Zweitburg ausgewichen sei, bis die erste wieder gereinigt worden wäre. Was solche Geschichten einer Gesellschaft die den Planeten ernsthaft in Schwierigkeiten bringt über Verdrängung aussagen, soll hier aber nicht das Thema sein.

Die Gasse als Latrine

Die Gasse als Latrine

Stattdessen soll es um Verwendung von Quellen und deren unkritische Verbreitung an einem Beispiel gehen. Eine immer wieder anzutreffende Bildquelle ist das nebenstehende Bild. Der Kontext in den es gestellt wird ist immer wieder die Aussage, die Leute hätten relativ ungeniert auf offener Straße ihr Geschäft verrichtet und die Nebengassen als Abort verwendet.
Daraus wird dann konstruiert, die Straßen wären über und über mit Fäkalien bedeckt gewesen.

 

 

 

Boccaccio Decameron, Ms. 5070, fol 54v

Dass genau dieses Bild zur Bezeugung solcher Aussagen nicht taugt, zeigt eine Betrachtung des gesamten Bildes.
Es stammt aus einer französischen Ausgabe des berühmten Dekameron von Boccaccio aus dem 15. Jahrhundert. Ursprünglich im Besitz des Herzogs von Burgund, ist es heute in der französischen Nationalbibliothek und alleine die Illustrationen machen eine Lektüre sehr lohnenswert: BNF Ms. 5070

Das ganze Bild zeigt schon eine andere Szenerie, denn oberhalb der Person ist ein Abort zu sehen. Liest man die dazu gehörige Geschichte, ändert sich der Kontext noch einmal deutlich.

Es handelt sich um die fünfte Geschichte des ersten Tages der Geschichtensammlung, die als Bestseller des Spätmittelalters gelten darf.
Ein junger Pferdehändler gerät in Genua an eine Betrügerin, die hinter seinem prall gefüllten Geldbeutel her ist. In ihrem Haus hat er seine Oberbekleidung und seine Hosen abgelegt. Zu seinem Unglück (oder Glück, die Geschichte suggeriert, das er sonst in diesem Haus ermordet worden wäre) bricht auf dem Abort der Boden unter ihm ein und er fällt in den darunter liegenden Graben in die Fäkalien.

Das Bild zeigt also keineswegs jemanden der ohne Scham in der Öffentlichkeit sein Geschäft verrichtet, sondern das Gegenteil, eine schamerfüllte Person, die in intimer Lage in die Öffentlichkeit geraten ist und sich dem Spott der Menschen ausgesetzt sieht.

Auch handelt es sich nicht um eine Seitengasse, sondern um einen Ehgraben, den freien Platz zwischen zwei Häusern, der tatsächlich häufig als Latrinengrube verwendet wurde. Die Mauer vor diesem Graben ist offenbar aus künstlerischen Gründen reduziert worden.
Dabei sprechen wir aber im Grunde über einen Misthaufen, wie er heute auf jedem Bauernhof zu finden ist, ganz ohne, dass die Bewohner dabei vor Gestank umkommen. Das räumen dieser Ehgräben und Latrinengruben ist denn auch in den Quellen immer wieder zu finden, denn letztlich ist auch das ein wertvoller Rohstoff.

Auch der Geruch der Hauptperson wird in der weiteren Geschichte mehrfach behandelt, selbst zwei Grabräuber an die er gerät,  beschweren sich über seinen Gestank und beschreiben ihn als den abscheulichste Gestank, der ihnen in ihrem Leben vorgekommen sei.

Wir haben also in dieser Geschichte einen Nachweis dafür, dass es den Menschen deutlich peinlich gewesen wäre in der Öffentlichkeit ihre Notdurft zu verrichten. Ebenso zeigt das Bild wie die Toiletten der Häuser aussahen.
Vor allem aber zeigt es, dass Gestank eben nicht die Norm der Zeit war, sondern selbst von Ganoven als abstoßend und unnormal betrachtet wurden.

 

Ein weiteres Beispiel ist übrigens das alte Thema des Nachttopfes der auf die Straße entleert worden wäre. Sucht man dafür nach Belegen findet man z.B. dieses Bild:

Entleeren des Nachttopfes

Entleeren des Nachttopfes

Auf den ersten Blick, scheint es ein Beleg für das beliebte Topos, die Leute haben ihre Abfälle einfach auf die Straße geworfen. Aber auch hier erkennt man leicht, das es nur um einen Ausschnitt handelt. Daher lohnt sich der Blick auf das ganze Bild:

Sebastian Brandt, Narrenschiff, 1494: von nächtlichen Hofieren

Sebastian Brandt, Narrenschiff, 1494: von nächtlichen Hofieren

Auch dies eine Szene aus einem berühmten Buch, nämlich aus dem Narrenschiff von Sebastia Brandt. Der Text dazu ist eine Klage gegen das nächtliche hofieren, mit den Worten:

„Die Gassentreter und die Göffel,
Die durch die Nacht nicht ruhen können,
wenn sie nicht auf der Gasse rennen,
Und schlagen Laute vor der Tür,
Ob nicht das Mädchen schau‘ herfür,
Nichts andres von der Straß‘ sie bringt,
Bis man mit Kammerlaug‘ sie zwingt.“

Auch hier wird das, zudem ironisch überspitzte Ereignis kurzerhand zur Struktur erklärt, zum Normalzustand der ganzen Epoche.
Leider kommt kaum eine filmische Umsetzung des Mittelalters ohne dieses immer wiederkehrende ausleeren des Nachttopfes aus.

Natürlich darf man eine mittelalterliche Stadt nicht nach unseren Sauberkeitsvorstellungen bewerten. Alleine schon aufgrund dessen, dass eine Stadt viel weniger urbanisiert war und zwischen den Häusern Gartenwirtschaft und Viehhaltung betrieben wurde, gab es natürlich Dreck auf den Straßen. Nicht anders als hier in Münzenberg, wo die vielen in den Hofreiten gehaltenen Pferde deutliche Spuren hinterlassen.
Dennoch bedeutet das keineswegs, dass die Menschen dem gleichgültig gegenüber gestanden hätten.

3 Antworten to “Boccacio und das schmutzige Mittelalter”

  1. Vielen Dank für den Artikel! Ihr sprecht uns aus der Seele! Ein Ziel unserer Arbeit für die Römerthermen Zülpich – Museum der Badekultur ist es Vorurteile zu beseitigen wie: Im Mittelalter war es dreckig und stank oder im Zeitalter des Barocks wurde nur parfümiert und gepudert…..

  2. Marianne Kunz sagt:

    Das bestärkt mich mal wieder immer wieder den Menschen zu widersprechen. Auch wenn es ein Dr. der Archäologie ist, der zudem Kunstgeschichte unterrichtet. ^^
    Spass hat es trotzdem gemacht das ganze vor der Klasse zu diskutieren.

    Also vielen Dank für den tollen Beitrag.

  3. andrej sagt:

    Leider kommt sowas zu selten von Leuten mit Titel oder auch nur fachlicher Ausbildung. Gerade bei Filmbeiträgen oder auch Schulmaterial, kennen wir zuviele Beispiele in denen der Inhalt zum größten Teil von den Filmleuten und Grafikern stemmen. Die Historiker dürfen dann noch ein paar Zitate beisteuern. Leider ist damit die Deutungshoheit unseres Geschichtsbildes nicht mehr in der Hand der Forschung.
    Gerade bei Schülern kommt hinzu, dass die Generation Youtube oder Netflix, nicht mehr wie wir, zufällig in Dokumentationen schaltet und hängenbleibt weil in den anderen beiden Programmen auch nichts läuft. Medienkonsum wird zunehmend selektiver. Dadurch wird das Allgemeinwissen nicht zwingend schlechter aber deutlich schmaler. Ich merke seit einiger Zeit, dass das Vorwissen von Schülern über das Mittelalter inzwischen gegen Null tendiert.

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