Der Rechenmeister

Rechenmeister bei der Arbeit

Ein Rechenmeister auf der Meersburg am Bodensee, bei der Berechnung der Haushaltsmittel. Der Rechentisch verfügt über eine verschiebbare Tischplatte, die den Zugang zum darunterliegenden Tischkasten freigibt.

Arithmetica

Allegorische Darstellung der Frau Arithmetica, die einen „Algoristen“ und den Benutzer eines Rechentisches unterweist. Holzschnitt von 1503, der die Konkurrenz des römischen und des arabischen Rechensystems schön wiedergibt.

Wissen im späten Mittelalter
Einer der Aspekte, in dem sich das Mittelalter am besten von der Moderne unterscheiden lässt, ist die Rechenkunst. Das Mittelalter steht ganz in der Tradition der Antike und verwendet das römische Zahlen- und Rechensystem. Auch wenn immer nur Teile der Bevölkerung in der Lage waren, höhere Mathematik anzuwenden, sollte man die Bedeutung nicht unterschätzen. Baukunst, Handel oder auch Seefahrt wären kaum möglich gewesen ohne die praktischen mathematischen Anwendungen.

Um diese mathematische Tradition zu demonstrieren, haben wir die Darstellung eines spätmittelalterlichen Rechenmeisters erschaffen, der zeigt, wie fremd und gleichzeitig vertraut dieses System uns heute ist.
Als Grundlage allen Wissens galt der Kanon der sieben freien Künste, der ebenfalls auf klassische römische Ideen zurückging und die Künste umfassen sollte, die ein freier Mann beherrschen sollte.
Das grundlegende Trivium umfasste dabei: Grammatik, Rhetorik und Dialektik, das weiterführende Quadrivium, dann Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie.
Besonders den Punkten Arithmetik und Geometrie ist die Darstellung des Rechenmeisters gewidmet.

Die Arithmetik, also das Rechnen mit den natürlichen Zahlen, wurde gerne allegorisch als Frau Arithmetica dargestellt, deren Attribut oft das Rechenbrett oder das Rechenseil ist. Beide Rechenwerkzeuge stellen wir ins Zetrum unserer Darstellung.
Auf unserem rekonstruierten Rechentisch können wir nachvollziehbar zeigen, wie gut das römische Rechensystem im Alltag funktionierte und sich Aufgaben in allen vier Grundrechenarten hinreichend lösen lassen.
Auf den Linien und Fächern, die die römischen Zahlzeichen repräsentieren, werden Rechenpfennige aus Kupfer verwendet, um Zahlenwerte anzugeben und Rechenoperationen durchzuführen.
Ein geübter Rechner kann Zahlzeichen ganz intuitiv erkennen und mit beeindruckender Geschwindigkeit Aufaben lösen.
Das Rechenseil, auch 13-Knoten-Seil genannt, ist wiederum ständiger Begleiter z.B. von Baumeistern. Es dient als Längenmaß, als einfacher Zirkel und kann für etliche Rechenoperationen genutzt werden. So gibt z.B. die gedruckte Schrift „Geometria deutsch“ von 1487 an, wie man mit Lineal und Zirkel, also Funktionen, die das Rechenseil übernehmen kann, den rechten Winkel exakt ermittelt, geometrische Figuren wie Fünf- und Siebeneck erstellt oder auch ein aus einem Quadrat ein Dreieck mit gleichem Flächeninhalt konstruiert. Darüber hinaus ist das Rechenseil auch geeignet, einfache Brüche schnell und einfache zu errechnen.

Dennoch wäre es falsch zu glauben, dass das arabische Zahlensystem und die Kunst der Algebra in Europa unbekannt gewesen wären. Seit Leonardo Fibonacci sein Lehrbuch Liber Abbaci veröffentlichte, waren dessen Inhalte unter den Mathematikern Europas weitestgehend bekannt.

Wissen im Wandel
Es gab jedoch einen guten Grund, warum diese Rechenart nicht im Alltag praktisch nutzbar war. Es fehlte ein günstiger Schreibstoff, womit wir den Bogen schlagen zu unserer Darstellung als Buchhändler und Briefmaler. Pergament war zwar ein bewährtes Material, aber viel zu wertvoll um es als Schmierpapier für Rechenoperationen zu verwenden. Dafür wären wiederum Wachstafeln vorhanden gewesen, deren Größe aber meist recht gering war. Erst durch die Medienrevolution des 15. Jahrhunderts stieg die Nachfrage nach Papier in dem Maße, dass genug Papier produziert wurde und der Preis so stark sank, dass das arabische System wirklich nutzbar wurde. Dementsprechend tauchten schon bald die ersten Rechenbücher auf, die diese Rechenart propagierten. Blieb das sogenannte Bamberger Rechenbuch des Mathematikers Ulrich Wagner noch eine Fußnote der Geschichte, gelang Adam Ries mit seinem „Rechenung auff der linihen und federn“ von 1522 der Durchbruch und verhalf dem Autor zu ewigem Ruhm. Der Umstand, wie schnell sich das neue, jetzt praktischere System in Europa verbreitete, widerlegt eindrucksvoll die Vorstellung, das Mittelalter sei neuen Ideen gegenüber ablehnend eingestellt gewesen.

Quadrant

Ein Richtschütze ermittelt mit Hilfe eines Quadranten den korrekten Schußwinkels eines Geschützes.

Schaut man sich das enorme Handelsaufkommen der Zeit an, muss einem aber klar werden, dass die teils enormen Handelsimperien z.B. der norditalienischen Städte, aber auch von Fernkaufleuten wie den Welsern aus Augsburg oder der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft unmöglich ohne eine durchdachte und effektive Buchhaltung möglich gewesen wäre.
Geldverkehr wäre gänzlich unmöglich gewesen, da der Wechselkurs all dieser Münzen nur über den Edelmetallgehalt der Münzen festgelegt wurde, der sich ständig änderte und von Ort zu Ort verschieden war. Der Geldwechsler war also eine dringende Notwendigkeit, vor allem zu Anlässen wie den zwei jährlichen Messen in Frankfurt am Main.
Die Rechenaufgaben in obengenanntem Rechenbuch von Adam Ries zeigen sehr schön, wo die Probleme eines damaligen Kaufmanns anfingen. Jede Stadt hatte nicht nur, wie erwähnt, eine eigene Währung, sondern auch eigene Maße und Gewichte und der Alltag eines Fernhändlers war davon geprägt, diese Einheiten umzurechnen, also den Dreisatz täglich anzuwenden. Fehler in der Umrechnung hätten ein lohnend erscheinendes Geschäft schnell zu einem ruinösen Wagnis werden lassen.

Alte Begriffe begegnen uns noch heute

Es überrascht einen wenig, dass die Kontokorrentbuchhaltung, wie sie heute noch gelehrt wird, im Groben und Ganzen auf das Spätmittelalter zurückgeht. Begriffe wie Konto, Bankrott (von banca rotta = zerbrochener (Rechen-)Tisch) oder auch die doppelte Buchführung, waren Hilfsmittel, um unter all den Umrechnungen mit einfachen Hilfsmitteln den geschäftlichen Überblick zu bewahren. Auch Redewendungen wie „Geld einstreichen“ lassen sich auf die Praxis der Geldwechsler zurückführen, die das getauschte Geld in den Tischkasten schoben, den man öffnete, indem man die Tischplatte ein wenig nach vorne schob.

Mittelalterliches Ellenmaß am Leinwandhaus in Frankfurt am Main

Mittelalterliches Ellenmaß am Leinwandhaus in Frankfurt am Main

Viele dieser Maß- und Gewichtseinheiten sind uns noch recht vertraut, einige davon ohne zu wissen wo sie eigentlich herkommen wie bei der Mark. Auch das Dutzend, aber auch Gros und schock klingen noch halbwegs vertraut, auch wenn sie längst nicht mehr so verbreitet sind wie im späten Mittelalter.
Natürlich wirkt es heute fremd statt mit Meter und Kilogramm mit Fuß, Elle, Zoll, Pfund, Pfennig, Lot und Karat zu messen, man sollte sich dabei aber in Erinnerung rufen, dass dies in den USA bis heute üblich ist und England sein karolingisches Münzsystem mit Pfund, Schilling und Penny, das exakt so auch bei uns üblich war, erst 1971 durch ein Dezimalsystem ersetzt hat.
Kern der mittelalterlichen Gewichts- und Münzeinheiten war das Karlspfund, das wiederum in 240 Denare (später Pfennige) unterteilt wurde. Unter den Saliern kam als weitere Gewichtseinheit noch die Mark, die später ein halbes Pfund betrug und schließlich lange Zeit der Name unserer Währung war. An vielen Orten finden sich auch alte Maßeinheiten an historischen Gebäuden wie z.B. am Leinwandhaus in Frankfurt.

Unsere Darstellung eines Rechenmeisters

Neben Rechentisch und Seil, zeigen wir auch Hilfsmittel wie Jakobsstab und Quadrant, Vorläufer von Astrolabium und Sextanten, mit deren Hilfe Winkel ermittelt werden konnten, was wiederum zu Berechnung von Höhen und Entfernungen zwischen zwei Objekten genutzt werden konnte. Zudem wollen wir die sozialen und kulturellen Umstände dieses Standes zeigen. Alleine in ihrer Mode betonten die Gelehrten ihren Stand sehr ausdrücklich, indem sie lange weite Roben trugen, die zu der Zeit modisch bereits veraltet waren. Damit legten sie den Grundstein für Talare von Priestern und Professoren und Roben von Richtern.

Insgesamt ergibt sich so ein lebendiges Bild der wissenschaftlichen Ideenwelt der Zeit und eines epochalen Umbruchs, der heute kaum noch wahrgenommen wird. Wie stark dieses Thema fasziniert, können wir auf unseren Vorführungen immer wieder sehen, da keins unserer sonstigen Themen die Besucher so lange fesselt und so viele Fragen stellen lässt wie dieses.

Historische Quellen:

Matthäus Roritzer: Buch der fialen Gerechtigkeit und Geometria deutsch, Regensbug 1486 und 1487. Online auf Bibliotheca Augustana
Ulrich Wagner: Bamberger Rechenbuch von 1482: Online bei der Staatsbibliothek Bamberg
Adam Ries: Rechenung auff der lihinen und federn : Mehrere Nachdrucke auf der Seite der Staatsbibliothek Bamberg

Literatur:

Deschauer, Stefan: Das mach nach Adam Riese: Die praktische Rechenkunst dest berühmten Meisters Adam Ries. Anaconda Verlag Köln, 2012

Der Rechenmeister in einer weiten Robe, die seinen Stand als Gelehrter anzeigt, vermisst mit einem Gehilfen und einem 13-Knoten-Seil einen Saal auf einer Burg.

Der Rechenmeister in einer weiten Robe, die seinen Stand als Gelehrten anzeigt, vermisst mit einem Gehilfen und einem 13-Knoten-Seil einen Saal auf einer Burg.